Kurzübersicht: Clemens steht vor einer wichtigen beruflichen Entscheidung – doch innere Blockaden und familiäre Prägungen scheinen ihn auszubremsen. Eine Systemische Strukturaufstellung (SySt®) soll Klarheit und innere Balance ermöglichen. Teil 1 der Fallgeschichte bietet Einblicke in die hypnosystemische Arbeit mit inneren Seiten, das Seitenmodell nach Gunther Schmidt und verschiedene Strukturaufstellungsformate.
In den letzten Beiträgen ging es um Anja und Bernd. Gemeinsam haben wir im Rahmen der Systemischen Strukturaufstellungsarbeit sowohl auf ihr Familienunternehmen als auch auf ihre familiären Konstellationen geblickt (siehe hier: Link 1 / Link 2).
Heute möchte ich dich wieder mit in meine Praxis nehmen – diesmal geht es um Clemens.
Ich werde dir den gesamten Ablauf in zwei Teilen schildern, damit ich dabei etwas tiefer ins Detail gehen und dir den Prozess gut nachvollziehbar machen kann.
Lass uns mit dem ersten Teil beginnen.
Viel Freude beim Lesen!
Vorab ein wichtiger Hinweis: Die Namen von Personen sowie die dargestellten Situationen und Begebenheiten sind so gewählt, dass sie die Abläufen in der SySt®-Praxis realitätsnah widerspiegeln, ohne jedoch Rückschlüsse auf reale Personen oder Geschehnisse zu ermöglichen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen sind daher rein zufällig.
Clemens, Mitte 40, kommt zu mir, weil ihn seit einigen Wochen ein innerer Konflikt stark belastet. Er wird zunehmend nervös, macht kleine Fehler bei der Arbeit und findet nachts kaum noch Ruhe.
In der Einzelberatung erzählt er, dass er seit vielen Jahren erfolgreich im mittleren Management eines großen Bauunternehmens tätig ist – fachlich versiert, gut vernetzt, geschätzt von Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten. Zudem betreut er eigenverantwortlich einen gewachsenen Kundenstamm.
Vor Kurzem wurde eine Führungsposition auf oberster Ebene ausgeschrieben – eine Rolle, für die Clemens wie geschaffen scheint. Seine erste Reaktion: Begeisterung. Auch aus seinem Umfeld kommt viel Zuspruch. Doch schon bald mischt sich in die anfängliche Motivation eine innere Blockade: Diffuse Ängste, Selbstzweifel und das hartnäckige Gefühl, „nicht gut genug“ zu sein, holen ihn immer wieder ein. Es ist ein ständiges inneres Hin und Her zwischen Zielstrebigkeit und einem lähmenden Widerstand, der ihn scheinbar aus dem Nichts überfällt.
Clemens hat viel über die möglichen Ursachen dieses Widerstands nachgedacht – bisher ohne eine für ihn stimmige Erklärung. Auch auf mein sachliches Nachfragen hin bleibt der „logische Grund“, wie er es nennt, unklar.
Daraufhin beschreibe ich ihm das innere Bild, das sich mir zeigt: Es wirkt, als würden zwei Seiten in ihm um Aufmerksamkeit ringen – eine zielstrebige und eine widerständige, mit jeweils berechtigten Bedürfnisse und positiven Absichten – und zwar für ihn als Ganzes.
Clemens meint, dass er sich gut mit der „Go-Seite“, wie er es spontan nennt, identifizieren kann – den Widerstand aber am liebsten „mundtot“ machen würde. Aus seiner Sicht hat dieser nur ein Ziel: ihn auszubremsen. Eine positive Absicht dahinter kann er derzeit nicht erkennen.
Vielleicht fragst du dich, warum ich Clemens das Modell der „inneren Seiten“ vorschlage. Der Grund ist einfach: Ich arbeite seit Langem mit dem hypnosystemischen Ansatz nach Gunther Schmidt – und habe damit in meiner Praxis sehr gute Erfahrungen gemacht.
Schmidt versteht sich – wie er selbst sagt – als „Realitätenkellner“: Er bietet Klientinnen und Klienten Aspekte ihres inneren Erlebens in personifizierter Form an, sodass sie leichter zugänglich und bearbeitbar werden.
Gerade bei Ambivalenzthemen erlebe ich das als besonders hilfreichen Zugang – ein zentraler Baustein meiner Arbeit, den ich dir hier kurz vorstellen möchte.
Schmidt verbindet die Hypnotherapie nach Milton Erickson mit dem systemischen Therapie- und Beratungsansatz – und er arbeitet dabei mit vielfältigen Interventionsmethoden.
Besonders bekannt ist sein sogenanntes Seitenmodell:
Im Zentrum des Seitenmodells steht die Annahme, dass unsere Persönlichkeit aus verschiedenen inneren Seiten besteht – bewussten und unbewussten. Je nachdem, welche dieser Seiten gerade aktiv ist, erleben wir uns unterschiedlich. Der Wechsel zwischen den Seiten kann allmählich erfolgen oder ganz abrupt – abhängig von Situation und Auslöser.
Wahrscheinlich kennst du das auch: Es gibt Momente, in denen es sich anfühlt, als würde plötzlich jemand in uns das Steuer übernehmen – wie in einem vollbesetzten Bus, in dem ein Fahrgast nach vorn stürmt, das Lenkrad an sich reißt und aus einer ruhigen Fahrt plötzlich eine wilde Raserei macht. Oder umgekehrt: Eine hektische, unruhige Fahrt wird auf einmal langsamer – und erstaunlich schnell ganz ruhig.
Dafür braucht es aber gar keine äußeren Auslöser – das gelingt uns ganz alleine. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Albtraum: Das innere Kopfkino treibt blitzschnell Herzfrequenz und Blutdruck in die Höhe – und genauso rasch beruhigen wir uns wieder, sobald der Traum vorbei ist.
Neurobiologisch lässt sich dieser „Wechsel am Steuer“ unseres inneren Systems durch das autonome Nervensystem erklären: Emotionale Zustände entstehen durch biochemische Prozesse, die unser Denken, Fühlen und Handeln verändern – manchmal in Sekundenbruchteilen.
Bei heftigen Gefühlen wie Angst oder Wut scheint oft nur eine einzige Seite präsent zu sein – andere geraten in den Hintergrund. Und auch andere innere Anteile, etwa jene, die fordern, antreiben, kritisieren, rebellieren oder blockieren, können sich so dominant anfühlen, als gäbe es nur sie. Das kann sehr anstrengend sein.
Hilfreich ist in solchen Momenten die Vorstellung: In uns gibt es noch weitere Seiten – sie sind nur gerade übertönt, weil andere so laut sind.
Häufig stehen sich innere Anteile auch mit scheinbar gegensätzlichen Intentionen gegenüber, zum Beispiel eine Antreiber- und eine Widerstandsseite. Genau das macht es besonders herausfordernd. Verständlich, dass wir dann am liebsten eine oder mehrere dieser Seiten unterdrücken oder ganz loswerden würden, damit endlich Ruhe einkehrt.
Doch die zentrale Arbeitshypothese lautet: Jede innere Seite verfolgt eine positive Absicht für uns bzw. unseren Organismus. Selbst – oder insbesondere – dann, wenn sie sich schmerzhaft äußert, unangenehm anfühlt oder störend verhält.
Mit dieser Haltung können auch schwierige Gefühle oder problematische Verhaltensweisen als Hinweise auf unerfüllte Bedürfnisse verstanden werden.
Anders als Erickson, der die intuitive Weisheit des Unbewusste in den Mittelpunkt stellte und dem Bewussten eine eher untergeordnete Rolle zuschrieb, betont Schmidt die Gleichwertigkeit aller inneren Seiten. Ziel in der hypnosystemischen Beratung ist deshalb ein wertschätzender innerer Dialog, in dem alle Anteile gehört und miteinander in Verbindung gebracht werden.
Unterstützend kann dabei eine ordnende innere Instanz wirken – etwa der „Fokus“ in der Strukturaufstellungsarbeit, den ich in diesem Zusammenhang als „bewusstes Ich“ bezeichne. Auch der Blick auf den jeweiligen Kontext, in dem bestimmte Anteile besonders aktiv werden – etwa im familiären Umfeld oder im Berufsleben – hilft dabei, innere Abläufe besser zu verstehen.
Fazit: Das Seitenmodell lädt dazu ein, innere Vielfalt nicht als Störung, sondern als Ressource zu begreifen – für mehr Selbstwert, Klarheit und innere Balance.
Was bedeutet das jetzt alles für Clemens?
Methodentransparenz ist mir wichtig – deshalb stelle ich Clemens das oben erwähnte Seitenmodell kurz vor. Die Idee spricht ihn an: „Ich bin nicht aus einem Guss“, sagt er, „sondern viele.“ Das hilft ihm, seine inneren Ambivalenzen eher anzunehmen.
Ich spreche mit Clemens auch darüber, dass – systemisch-konstruktivistisch betrachtet – blockierende Seiten Hinweise auf „blinde Flecken“ im Erleben geben können – etwa auf Unterdrücktes, Unbewältigtes, Ausgeblendetes oder Ausgeschlossenes. Dabei muss sich das nicht zwingend auf ihn selbst beziehen: Solche Seiten können auch mit unbewussten Loyalitäten verknüpft sein – etwa gegenüber Familienmitgliedern oder Personen im beruflichen Umfeld (siehe hier: Link 1 / Link 2).
Diese Gedanken stimmen Clemens nachdenklich. Er erzählt, dass seine Mutter früher eine leitende Position in einem Architekturbüro hatte – ein Job, der sie zwar forderte, aber auch erfüllte. Als sich sein Vater in eine andere Frau verliebte und die Familie verließ, sah sich die Mutter gezwungen, ihre Stelle aufzugeben und eine Teilzeitfunktion zu übernehmen – der einzige Weg aus ihrer Sicht, um genügend Zeit für Clemens und seine Schwester zu haben. Doch solange Clemens zurückdenken kann, hat seine Mutter ihrer aufgegebenen Karriere nachgetrauert – bis heute.
„Ob diese Geschichte etwas mit meinem inneren Widerstand zu tun hat?“, fragt er sich.
Diese Frage ist natürlich hypothetisch – sie lässt sich nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Außerdem geht es weder in der hypnosystemischen Beratung noch in den Systemischen Strukturaufstellungen um Kategorien wie richtig oder falsch. Wir betreiben keine Ursachenforschung, und wir richten uns auch nicht nach linearen, kausalen Wirkungsketten.
Im systemischen Ansatz denken wir stattdessen zirkulär: Das heißt, dass unser Verhalten im sozialen Zusammenleben von Auslösern und Reaktionen geprägt ist, die sich wechselseitig beeinflussen.
In der praktischen Arbeit schauen wir, welche Annahmen für den Klienten oder die Klientin passend sind, bei ihnen innere Resonanz erzeugen, etwas in Bewegung bringen und neue Blickwinkel eröffnen.
Auf Clemens‘ Situation bezogen und im Sinne einer heuristischen, also erkundenden, Haltung ergeben sich für Clemens folgende Fragestellungen:
Diese Herangehensweise an seine innere Ambivalenz fühlt sich für Clemens stimmig an. Er entschließt sich zu einer Systemischen Strukturaufstellung in der Gruppe, die in einer Woche stattfinden wird – mit dem Ziel, in eine gute Balance mit sich und seinen inneren Seiten zu kommen und so die ausstehende berufliche Entscheidung leichter treffen zu können.
Eine Woche später:
Unmittelbar vor der Systemischen Strukturaufstellung in der Gruppe kläre ich mit Clemens in einem separaten Raum, ob sich sein Anliegen seit der Vorprozessarbeit verändert hat. Er berichtet, dass ihn die „Geschichte“ seiner Mutter weiterhin stark beschäftigt. Gleichzeitig sind Wut und Kränkung gegenüber seinem Vater präsenter geworden. Clemens fühlt sich von ihm im Stich gelassen – das Verhältnis ist, trotz mehrerer Aussprachen, bis heute angespannt.
Die Vorprozessarbeit in der letzten Sitzung hat offenbar tiefere Themen ins Bewusstsein gerückt, sodass die heutige Strukturaufstellung auf einer bereits weiterentwickelten Ebene ansetzen kann.
Gemeinsam überlegen wir, ob eine Strukturaufstellung seiner Herkunftsfamilie hilfreich wäre, um das Elternthema in den Fokus zu rücken. Letztlich entscheiden wir uns jedoch, wie ursprünglich geplant, auf Clemens’ inneres System zu schauen – denn das aktuelle Anliegen betrifft aus seiner Sicht weniger die familiären Beziehungen als vielmehr die innere berufliche Zwickmühle.
Statt einer Familienstrukturaufstellung entscheide ich mich bei Clemens für das Format der „Aufstellung des ausgeblendeten Themas“. Diese Wahl basiert zum einen auf der Grammatik der Systemischen Strukturaufstellungen (SySt®) – und zum anderen auf meiner fachlichen Einschätzung und praktischen Erfahrung.
Die Verantwortung für die Formatwahl liegt bei mir als Aufstellungsleiterin – Clemens muss weder die SySt®-Grammatik noch spezifische Fachbegriffe kennen.
Falls du aber neugierig bist, nach welchen Überlegungen wir Strukturaufstellungsleitenden an dieser Stelle vorgehen, lade ich dich zu einem kurzen Blick hinter die Kulissen ein:
Systemische Strukturaufstellungen (SySt®) arbeiten mit verschiedenen Formattypen, die je nach Anliegen flexibel eingesetzt werden:
Jedem dieser Formate sind bestimmte Elemente zugeschrieben. Oft genügt auch eine reduzierte Version eines Formats – eine sogenannte partielle Strukturaufstellung.
Welches Format in welchem Umfang passend ist, zeigt sich in der Regel im Vorprozess. Dabei geht es nicht um ein „richtig“ oder „falsch“ gewähltes Format, sondern darum, aus fachlicher Sicht eine Form zu finden, die den aktuellen Entwicklungsprozess bestmöglich unterstützt.
Du hast jetzt das Seitenmodell nach Gunther Schmidt kennengelernt und einen ersten Überblick über verschiedene Aufstellungsformate bekommen.
Aber warum gelten Systemische Strukturaufstellungen eigentlich als hypnosystemisches Verfahren?
Bevor wir in der nächsten Folge wieder mit Clemens in die Praxis einsteigen, werfen wir noch gemeinsam, einen zweiten Blick hinter die Kulissen – auf ein paar Grundlagen der Hypnosystemik.
Was ist Hypnose?
Hypnose hat nichts mit Schlaf zu tun – auch wenn das griechische Wort „hypnos“ das nahelegt. Vielmehr geht es um eine gezielte Umfokussierung der Aufmerksamkeit, durch die ein veränderter Bewusstseinszustand entsteht: die sogenannte Trance.
Was ist Trance?
Trance passiert ständig im Alltag – beim Tagträumen, Musikhören, Spazierengehen, wenn wir ganz in ein Gespräch eintauchen oder wenn wir konzentriert an etwas arbeiten und dabei in einen Flow geraten, in dem Zeit und Raum an Bedeutung verlieren.
Trance kann aktiv ausgelöst werden – zum Beispiel durch Bewegung, oder „einfach so“ entstehen – etwa beim aufmerksamen Zuhören. Und manchmal reicht schon ein bestimmtes Bild, eine Stimme oder ein Geruch, um etwas Bestimmtes in uns auszulösen – das nennt man Priming. Je nachdem, worauf unser innerer Fokus dabei gerichtet ist, sprechen wir von einer Problem-, Symptom-, Wunsch- oder Lösungstrance.
Und was hat das mit Strukturaufstellungen zu tun?
In den Systemischen Strukturaufstellungen wird genau dieses Prinzip genutzt: Durch kleine Tranceimpulse – etwa in Form lösungsfokussierter Fragen oder durch sprachlich angeleitete Bewegungen, wie das Einrollen und In-den-Raum-Führen der Repräsentierenden –, verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden weg vom Alltagsgeschehen hin zur repräsentierenden Wahrnehmung. Diese entsteht als ein gemeinsames Tranceerleben innerhalb der Gruppe.
Dabei treten bei den Repräsentierenden oft typische Trancephänomene auf, wie:
Durch das bewusste, sprachlich begleitete Entrollen erfolgt der Ausstieg aus der Aufstellungstrance und die Überleitung ins Alltagsbewusstsein.
Ein besonders spannendes Element in der Hypnoarbeit ist die sogenannte kataleptische Hand:
Durch bestimmte Techniken kann die Aufstellungsleitung die eigene Hand aus der bewussten Kontrolle „entlassen“ – und plötzlich wird diese Hand von den Repräsentierenden wie ein weiteres Element im dargestellten System wahrgenommen. In manchen Prozessen kommen sogar beide „kataleptischen“ Hände zum Einsatz.
Diese Methode wurde von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd aus der Hypnotherapie nach Milton Erickson in die Strukturaufstellungsarbeit übertragen. Sie eröffnet neue Zugänge im Aufstellungsprozess und wird häufig genutzt, um Hypothesen zu überprüfen.
Heute hast du – am Beispiel von Clemens und seinen inneren Seiten – einen erweiterten Einblick in den methodischen Hintergrund der Systemischen Strukturaufstellungen bekommen.
Doch das war erst der Anfang. In Teil 2 steigen wir wieder ganz praktisch ein und begleiten Clemens bei der Aufstellung seines ausgeblendeten Themas. Dabei wird es auch Überraschungen geben.
Bist du gespannt, wie es weiter geht?
Dann freue ich mich, wenn du wieder dabei bist!
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Schmidt, Gunther :
Schmidt, Gunther & Varga von Kibéd, Matthias :
Sparrer Insa:
Sparrer, Insa & Varga von Kibéd, Matthias :
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